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Mindpacifique

Ein Biss in Ungewisse

von | Aug 12, 2005 | Geschichten | 0 Kommentare

Grelles Licht fällt auf seine Augen. Verwundert und irritiert schaut sich der Wurm um. Ein riesiges Gesicht befindet sich unmittelbar über seinem Haus.

Ein großes Stück vom Wohnzimmer ist einfach weg. Abgebrochen. Fassungslos dreht sich der Wurm, um einen Blick auf den Rest seiner Behausung zu erhaschen.

Nicht möglich. Das riesige Gesicht über ihm bewegt sich keinen Zentimeter. Es starrt ihn an. Unverhohlene Abscheu. Zusammengekniffene Augenbrauen, hervorgeschobene Unterlippe. Keine guten Anzeichen für ein glückliches Ende.

Der Wurm nimmt tief Luft, zieht seinen Kopf zurück und überlegt fieberhaft, was denn nun zu tun ist. Er ist erst vor einiger Zeit in das neue Haus eingezogen, er findet es ja auch nicht schlecht, eigentlich sogar gut.

Das Leben hat es nicht so gut mit ihm gemeint. Er ist viel allein, hat eigentlich keine Freunde, was heißt eigentlich eigentlich in diesem Zusammenhang, er hat keine Freunde, Schluß aus. Ohne seine tolle Bleibe lebt er jeden Tag in Angst und Schrecken.

Die Angst, er könne einem Anschlag der riesigen fliegenden Dinger zum Opfer werden.

Der Schrecken, einfach totgetreten zu werden.

Seine Depressionen haben schon Hand und Fuß, unbegründet sind sie bestimmt nicht. Ihm stellt sich allerdings jeden Tag aufs neue die Frage, warum sich alle anderen Würmer von ihm abgewand haben, keiner spricht mit ihm, keiner kommt ihn mal zwischendurch besuchen.

Die Mädchen, ach Gott, die Hoffnung auf eine Verabredung am Wochenende hat er sich schon vor so langer Zeit abgeschminkt, das er sich daran nicht mehr erinnern kann. Und jetzt das noch. In Sekunden läuft sein Leben noch einmal vor seinen inneren Augen vorbei. Eine tiefe Trauer überkommt ihn, gleichzeitig eine ungebremste Zuversicht, über all die Jahre Recht gehabt zu haben…

Zur selben Zeit denkt sich der kleine Johannes, das das wohl die Geschichte seines Lebens ist.

Erst wird ihm schlecht, das ähnliche maue Gefühl hatte er schon am morgen in der Schule, als der dicke Peter und seine Freunde ihm die Hose runtergezogen haben und ihn in die Mädchentoilette steckten, in der großen Pause, und dann von außen die Tür zudrückten.

Währenddessen haben sie ihm die Schulbrote geklaut und aufgegessen, seine Capri- Sonne ausgetrunken und Flecken auf seine Schulhefte gemacht.

Die Schule ist für Johannes ein Spießrutenlauf. Jeden Morgen geht er mit Bauchschmerzen hin und kommt mittags mit Bauchschmerzen zurück, mittags meist aus Hunger, und nicht mehr aus Angst.

Er hat keine Freunde. Er ist zu klein, zu schmächtig. Er muss die alten Sachen seiner älteren Geschwister auftragen und das ist uncool, das weiß er jetzt. Tolle Voraussetzungen um gequält zu werden.

Seine Geschwister haben es ihm so erklärt: In jeder Klasse gibt es einen wie Johannes. Natürlich ist es ihnen früher besser ergangen. Sie waren cool und angesagt, aber dieser Status ist leider nicht übertragbar. Und ihre Klamotten waren zu dem Zeitpunkt ja auch noch angesagt und modern.

Und dann das noch. Nach der Schule ist Johannes noch über den Wochenmarkt geschlichen, er weiß nicht, ob der Marktmann seinen Magen hat knurren hören, laut genug war er ja, aber er schenkte Johannes einen Apfel. Er hat sich so sehr darüber gefreut, konnte es aber nicht richtig zum Ausdruck bringen und der Marktmann hat sich verärgert über die undankbare Jugend abgewand.

Johannes steckt seinen Apfel in die Tasche und läuft los, niemand sollt den Apfel sehen, er will ihn ganz alleine essen. Er läuft zu dem kleinen Park in der Nähe der Wohnung seiner Eltern.

Er beißt in den Apfel hinein. Augenblicklich hat er den süßen Apfelgeschmack im ganzen Mund, das Wasser läuft ihm im Mund zusammen, langsam kaut er, schluckt den Apfel herunter, dann

der nächste Biß, er zwingt sich, den Apfel nicht zu schnell zu essen, er will ihn genießen.

Und dann sieht er ihn, beim nächsten Bissen. Er hält inne.

Er weiß nicht, ob er jetzt einfach weinen soll, den Apfel wegwerfen, den Wurm auf den Steinen zerschmettern und darauf herumtrampeln. Das süße Glücksgefühl war einfach weg. Eine wütende Trauer überkommt ihn. Der Apfel, der eben noch den

Bauch so wohlig gefüllt hat, liegt ihm jetzt wie ein Stein im Magen.

Doch dann besinnt sich Johannes, er lächelt, zieht den Wurm aus dem Apfel, legt ihn, nachdem er den Wurm freundlich begrüßt und sich vorgestellt hat, vorsichtig in das Blumenbeet und ißt den Apfel soweit es geht auf. Glücklich und zufrieden dreht sich Johannes um, er möchte gerade nach Hause gehen als er den dicken Peter hinten am Spielplatz sieht.

Drei Realschüler haben ihn gerade zwischen sich und nehmen ihn in die Mangel. Ganz schön übel. Und auf einmal spürt Johannes ein vollkommen neues Gefühl für Peter: Mitleid.

Und mit diesem Gefühl geht er nach Hause.

Der Wurm öffnet seine Augen. Der Sturzflug ist vorbei. Er sieht sich um, erwartet seine verstorbenen Verwanden, die ihn im Jenseits begrüßen sollten…

Stattdessen liegt er zwischen frischer und saftiger Erde, war das das Paradies? Kaum zu glauben. Ein Stückchen weiter erblickt er einen alten Bekannten. Langsam kriecht der Wurm auf ihn zu, irgendwie ist ihm nach einem ganz normalen Gespräch zwischen Freunden über irgendwelche alltäglichen Belanglosigkeiten…