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Mindpacifique

Der Tag, der alles verändert.

von | Jan 15, 2008 | Geschichten | 0 Kommentare

Frau Umlauf

„Das sind aber merkwürdige Fragen für ein Vorstellungsgespräch. Welcher Tag hat ihr Leben für immer verändert? Man erwartet andere Fragen.“ Mein Gegenüber grinst breit. „Ich weiß, wir irritieren gerne. Im Ernst. Wir sind eine ausgefallene Buchhandlung und wir suchen ausgefallene Typen, die zu uns passen. Wir legen weniger Wert auf Zeugnisse und schulische Entwicklung. Wir legen Wert auf innere Werte. Bis heute hat uns noch kein Mitarbeiter verlassen, weil er anderswo sein Glück versuchen wollte. Alle sind uns treu geblieben. Seit fünfzehn Jahren. Wir haben seitdem sechs Kinder zur Welt gebracht, Mitarbeiterinnen, die nach ihrer Schwangerschaft wieder eingestiegen sind und ihre Vertretungen sind immer noch bei uns. Insgesamt haben wir acht Filialen in einem Umkreis von fünfzig Kilometern eröffnet. Wir planen weitere Filialen und suchen passende Mitarbeiter. Das dauert manchmal sehr lange. Wissen sie, Fotos können ausschlaggebend sein, müssen aber nicht. Bewertungen und Zeugnisse zeigen einen kleinen Einblick in die Person, aber aussagend sind sie nicht. Was zählt, ist der Mensch. Nur ein gutes Team kann gute Umsätze erzielen. Bei aller Liebe zum Kulturgut Buch: Recht hat immer noch der, der verkauft und gute Gewinne macht. Natürlich schaudere ich, wenn ich sehe, wie die Buchhandlungen der Branchenriesen aus

der Erde sprießen. Thalia, Mayersche, DBH, bei der man gar nicht mehr weiß, was da noch so zugehört. Die kleinen Buchhandlungen gehen ein, daran ändert auch die Buchpreisbindung nichts.

Ihren Unterlagen entnehme ich, das sie vor Ihrer Arbeitslosigkeit bei allen dreien gearbeitet haben.“ „Das stimmt, ich habe jeweils auf eigenen Wunsch gekündigt. Die ersten beiden Male hatte ich schon die neue Stelle im Angriff, das letzte Mal war ich danach endgültig arbeitslos. Da ich die ersten drei Monate kein Arbeitslosengeld bekommen habe, habe ich ein bisschen gekellnert. Vor vier Wochen las ich ihre Anzeige im Börsenblatt online und habe mich prompt beworben.“ Der nette Mann, dessen Namen ich vor lauter Aufregung wieder vergessen habe, grinst mich wieder schelmisch an. „Wir unterscheiden uns gänzlich. Generell weiß ich, das diese Ketten da sein müssen. Der Kunde bestimmt die Geschäfte. Der Kunde möchte eine fast hundertprozentige Titeldeckung, er möchte

Leseinseln, Cafébars, Internetzugang, Anonymität.

Bei uns werden Bücher gekauft, die der Kunde möchte oder empfohlen bekommt. Er darf auch mal reinschauen. Gelesen wird zu Hause. Kaffee darf unser Kunde gegenüber im Café trinken, auch gerne mit einem Buch, das er vorher bei uns gekauft hat. Internet gibt’s zu Hause und im Café gegenüber und Anonymität bekommt der Kunde zuhauf im Internet, aber nicht bei uns. Frau Dr. Fuchs wird mit Namen gegrüßt. Unverschämte Leute werden des Ladens verwiesen, das möchte ich unseren Kunden nicht zumuten. Bei uns gilt immer noch, der Kunde, der

freundlich fragt, bekommt freundlich und kompetent Antwort. Nicht der Kunde, der am lautesten schreit und sich bei irgendeiner Zentrale beschwert bekommt als Entschuldigung einen zwanzig Euro Gutschein. Sie sehen, wir versuchen im Wort Buch-Handel das Buch und den Handel gleich zu behandeln.

Auf buchhändlerische Erfahrungen können und möchten wir nicht verzichten. Können Sie mir den Autor und den Titel der Nummer Eins aus der Suhrkamp-Taschenbuchreihe nennen?“ Also doch Fachwissen, verdammt, darauf war ich nicht vorbereitet. Ich hole Luft, um meine Antwort vorzubereiten, aber er grinst wieder und sagt: „Frau Umlauf ist siebenundsechzig Jahre alt. Seit fünfundvierzig Jahren arbeitet sie als Buchhändlerin, die letzten zehn Jahre in unserem Unternehmen. Frau Umlauf kennt sie alle. Und sie hat alle gelesen. Ein Phänomen. Der Buchhandel ist ihr Leben. Überall anders wurde ihr Wissen sogar als störend empfunden. Sie kennen die goldenen Regel: Zwei Minuten für ein gebundenes Buch, eine Minute für ein Taschenbuch. Absurd! Ohje, Entschuldigung, ich habe mich wieder in Rage geredet. Aber es ist mit Sicherheit wichtig, das sie erkennen, wie unser Unternehmen gestrickt ist. Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage: Also, welcher Tag hat ihr Leben für immer verändert?“

Die Frage kommt mir mittlerweile gar nicht mehr merkwürdig vor.

Es gibt nur eine Antwort: „Heute.“