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Mindpacifique

Rache

von | Jan 13, 2008 | Geschichten | 0 Kommentare

Rainer sitzt am Tisch in der kleinen Kneipe. Seit fünfundzwanzig Jahren scheint sich nichts verändert zu haben. Kalle schaut ihn immer noch mit großen Augen an.

An seinem dreizehnten Geburtstag sah er sie zum ersten Mal. Sie war neu in seiner Klasse. Die Lehrerin stellte sie vor: „Das ist Kerstin Stremmer. Sie geht ab heute in unsere Klasse. Sie kommt aus Bolivien. Dort hat sie aber eine deutsche Schule besucht und sie spricht auch fließend deutsch. Ihr Vater ist Schulrektor und wurde an eine deutsche Schule versetzt. Kerstin ist ein bisschen schüchtern, aber wie ich euch kenne, werdet ihr sie schnell in eure Gemeinschaft aufnehmen.“ Seit diesem Tag war Rainer wie gefesselt. An seinem siebzehnten Geburtstag kamen sie zusammen. Auf seiner Geburtstagsparty. Sie mochte seine sensible und verklärte Art. Bis heute weiß er nicht, was sie damit meinte, aber er hielt es für ein gutes Zeichen. Sie waren so glücklich. Sie machten gemeinsam Abitur und träumten von einer glücklichen Zukunft. Sie wollte Tiermedizin studieren und er wollte Journalist werden. Gemeinsam wollten sie es schaffen. Im Spätsommer, ein paar Monate nach dem Abitur, wollte er ihr seine festen Absichten mitteilen. Nein, er wollte sie nicht heiraten, jetzt noch nicht. Aber sie sollte richtig zu ihm gehören. Er kaufte ihr einen Ring, für einhundert Mark. Das war sehr viel Geld für ihn. Einen Freundschaftsring. Sie trafen sich abends in ihrer Stammkneipe. In dieser Kleinstadt gab es nicht wirklich so viele Alternativen. Ihre Clique saß ein paar Tisch weiter. Kalle und Charly, beide heißen Karl-Heinz, aber Kalle ist halt nicht so cool wie Charly, damit bekam Charly den coolen Spitznamen und Kalle musste sich mit Kalle begnügen. Renate, Elke und Sabine rauchten wie immer ihre selbstgedrehten Zigaretten. Die Rauchschwaden zogen bis zu ihrem Tisch. Rainer und Kerstin hatten gemeinsam beschlossen, nicht mit dem Rauchen anzufangen. Er war so aufgeregt. Permanent fingerte er an dem Ring in seiner Hosentasche herum. Kerstin schien auch nervös zu sein. Rainer fragte sich, ob sie etwas ahnen würde. Sie ergriff das Wort. Sie erklärte ihm, das sie ab heute eigene Wege gehen möchte. Sie sei noch so jung und habe das Leben noch vor sich, sie möchte frei entscheiden können, wo und was sie studieren wird und sie habe das Gefühl, Rainer würde sie mit seiner Art einengen. Ihm fehlten die Worte. Ungefähr ein Jahr lang. Er stand in einem Tranceähnlichen Zustand auf und verließ die Kneipe, ohne irgendwen zu verabschieden. Draußen schmiß er den Ring in den nächstbesten Mülleimer. Am nächsten Tag besuchte ihn Charly. „Hey, komm, beruhige dich. Die blöde Schlampe hat dich eh nicht verdient. Die ist doch total verkorkst. Die mit ihren Spießereltern, ihrem Spießerheim, willst du mal so enden???“ Rainer antwortete nicht. Am liebsten hätte er gebrüllt: „Ja, genauso möchte ich enden. Ein glückliches Spießerdasein mit meiner Spießerfrau und meinen drei Spießerkindern in unserem Spießerhaus!!“ Das hätte Charly mit seinem extrovertierten Lebensstil wohl nicht ganz zu schätzen gewusst. Rainer zog sich mehr und mehr von seiner ehemaligen Schulclique zurück. Er machte ein Ausbildung beim Finanzamt, danach studierte er und arbeitet seitdem festangestellt und verbeamtet beim Finanzamt. Er ist glücklich, zufrieden. Nach ein paar Jahren lernte er seine jetzige Ehefrau Annika kennen. Sie haben zwei Kinder und sind rundum zufrieden und glücklich. Kleines Haus mit Garten, ein Hund, zwei Katzen und drei Meerschweinchen und wahrscheinlich ungezählt viele Flöhe. Kerstin sah er ungefähr einmal im Jahr in der Stadt, meist auf der anderen Straßenseite. Mittlerweile hat sie dabei vier Kinder im Schlepptau. Und jedes Mal nagt es an ihm, es könnten seine Kinder sein. Er versteht es nicht. Nach zwanzig Jahren sollte man darüber hinweg sein, aber wahrscheinlich kommt man niemals über die erste große Liebe hinweg. Manchmal sah er auch Charly. Immer in einem schicken Porsche, den wollte er schon immer fahren. Er nervte ihn schon früher beim Quartettspiel mit seinem Detailwissen über jedes Porschemodell. Dafür konnte Rainer in mit sämtlichen anderen Marken übertrumpfen. Die interessierten ihn nie. Charly ist selbständig, aber seine Geschäfte laufen anscheinend nur so mäßig. Aber immer fettes Auto, immer zum teuersten Italiener in der Stadt und immer eine neue Schnecke im Auto, jedes Mal eine jüngere. Oder es kommt ihm nur so vor, weil er selber immer älter wird. Und dann traf er Kalle, zufällig, wie aus heiterem Himmel und lud ihn prompt auf ein Bier in ihre alte Stammkneipe ein. Und da saßen sie, Kalle schaute ihn mit seinen großen Augen vollkommen entsetzt an. „Hey Mann, ich dachte du wüsstest darüber bescheid. Wir haben uns all die Jahre total gewundert, was für ein knorke Freund du bist. Charly hat nach ungefähr ´nem Monat mit ihr Schluß gemacht. Kerstin war total desillusioniert und wollte so gerne wieder zu dir zurück. Aber du hast ja keinen mehr an dich rangelassen und warst kaum ansprechbar. Da hat sie sich nicht getraut. Nur Charly hat dich ab und an gesehen, das hat uns schon verwundert. Das du nicht total sauer auf den gewesen bist.“ Rainer fühlte sich missbraucht. Das Bier schmeckte einfach scheiße. Er musste raus aus der Kneipe, er bekam keine Luft mehr. Er ging grußlos raus und ging nach Hause. Er benahm sich wie immer, keiner hätte gemerkt, das er in seiner zweitgrößten Krise seines Lebens steckt. Wieso fühlt er sich so verraten, Kerstin war Teil seines Lebens, aber der ist schon so lange vorbei. Wieso ließ es ihn nicht los. Nach ein paar Tagen formulierten sich die Worte in seinem Kopf. Erst wie leichte, spielerische Nebelschwaden wabberten sie durch ihn hindurch, dann konnte er sie aussprechen. Immer, wenn er alleine war. Rache! Rache! Rache! Ein natürliches Gefühl, er musste Rache nehmen. Aber wie. Er kann unmöglich bei Charly auftauchen und ihn beschimpfen. Bringt nichts. Der lacht sich doch kaputt. Er hört ihn förmlich: „Was, nach zwanzig Jahren bist du auch mal dahinter gestiegen. Du warst ja noch nie der pfiffigste, aber zwanzig Jahre! Reife Leistung!!!“

Rainer überlegte sich einen Plan. Rache zu nehmen, die nicht auf ihn zurückfällt, eher zufällig aussieht und die Charly größtmöglichen Schaden zufügt. Dienstag Nachmittag ging er zum Betriebsprüfer Hannes Gerling. Der hatte zwar immer alle Hände voll zu tun, war aber für gewisse Hinweise immer dankbar.

Zufrieden lehnte sich Rainer in seinen Sessel zurück. Wenn es gelaufen war, wollte Hannes ihn über alles informieren.