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Mindpacifique

Feddersens Sehnsucht

von | Feb 11, 2008 | Geschichten | 0 Kommentare

Feddersen hört die Stimme noch deutlich in seinem Ohr. Der Arzt hat sich präzise ausgedrückt. Maximal sechs Monate. Eher weniger, viel weniger. ER streut wie wild. Im ganzen Körper. Feddersen schaut auf die Uhr. Gleich zwölf, Mittag. Er schluckt den chemischen Geschmack und schaudert. Er steht auf und geht zur Kantine. Donnerstags gibt es normalerweise Reibekuchen mit Apfelmus. Sein Lieblingsessen.

Er begegnet Kollegen und grüßt. Wie immer. Niemand merkt ihm etwas an. Pünktlich um 12:45 Uhr sitzt er wieder an seinem Schreibtisch. Sein Blick fällt auf das fertige Puzzle an der Wand, geklebt und eingerahmt. Weißer Strand, blau-grünes Meer und Palmen.

Er arbeitet weiter. Er wühlt sich durch Akten, vergleicht Angaben, sieht in den dicken Gesetzesbüchern nach, die fast auseinander fallen. Überall kleben Post-its, Bemerkungen sind an den Rand gequetscht und Zeile um Zeile sind unterstrichen.

Er ärgert sich maßlos über die Fehler anderer und vergisst darüber hinaus seinen Zustand. Um fünfzehn Uhr meldet sich, wie gewöhnlich, sein Magen. Er trinkt einen Kaffee und knabbert an den selbstgebackenen Keksen. Sein einziges Hobby. Neben puzzeln. Und da ist er wieder. ER. Und er wächst. Jede Minute verschwindet gutes Gewebe. Er kann nicht aufhören, an ihn zu denken. Er trinkt seinen Kaffee schnell aus.

Feddersen arbeitet weiter. Nach fünf Minuten hat er ihn wieder vergessen.

Er schaut auf die Uhr neben dem polynesischen Strand. 17:20 Uhr. Feierabend. Er beendet seine Arbeit, klappt seine Tasche zu und verlässt das Büro. Er geht die langen, nüchternen Korridore entlang zum Ausgang. Er passiert den Pförtner in der Empfangshalle. „Pünktlich wie immer, Herr Feddersen“, ruft ihm der Pförtner zu. „Stimmt genau“, antwortet Feddersen, „Auf Wiedersehen.“ Er tippt mit dem linken Zeigefinger an seine Hutkrempe, rechts trägt er seine Aktentasche. Gegenüber fährt der Bus ab. Wie gewöhnlich erreicht er die Bushaltestelle um 17:32 Uhr, der Bus der Linie 60 hält um 17:35 Uhr, täglich pünktlich. Feddersen steigt in den Bus und grüßt Herrn Willy Otremba, den Busfahrer. Sie kennen sich mittlerweile seit fünfundzwanzig Jahren. Feddersen machte vor dreißig Jahren seine Ausbildung im Finanzamt und fährt seitdem täglich mit dem Bus. Ausnahmen sind Urlaubszeiten und die wenigen seltenen Krankheiten der beiden. Ansonsten begann Herr Otremba vor fünfundzwanzig Jahren seinen Dienst. Seitdem fahren sie zusammen. „Schöner Abend heute“ sagt Feddersen. „Soll aber noch regnen“, gibt Otremba zurück. „Dabei hatten wir doch in letzter Zeit eine ganze Menge Regen“, sagt Feddersen. „Da haben sie Recht.“ Dieses Gespräch variiert täglich, so wie sich das Wetter ändert. Die bevorstehende Klimakatastrophe würde anregende Gespräche mit sich führen, aber diese würde er nun nicht mehre erleben, sowohl als auch. Feddersen seufzt. Er setzt sich auf seinen angestammten Platz und schlägt die Tageszeitung auf. Der Bus ist wie jeden Tag leer.

Und er kann bequem die Arme ausbreiten, er sitzt allein. Aber er kann sich nicht auf die Zeitung konzentrieren. Er weiß nicht, was er sonst machen soll, also tut er bis zu seiner Haltestelle so, als ob er weiter liest. An der Haltestelle steckt er die ungelesene Zeitung in seine Tasche, er steigt aus und geht seinen gewohnten Weg. Mitten in der Goethe-Straße fängt es an zu regnen. Er hat keinen Schirm dabei, also beginnt er zu laufen. Er biegt links in die Nora-Allee ein, als der Himmel einen wahren Sturzbach auf ihn niederlässt. Er versucht den bösen, sehr tiefen Pfützen auszuweichen, die sich scheinbar in Sekunden gebildet haben. Er biegt links in die Lindenstraße ein und bleibt vor Nummer 22 stehen. Zu Hause. Er öffnet die Tür und macht das Licht an. Die Lampen werden erst nach einigen Minuten richtig hell, so steht er erst einmal im schwachen Licht. Erst vor kurzem hat er alle Lampen im Haus mit Energiesparmodellen ausgetauscht. Spätestens in zwei Jahren sollen sich die Ausgaben dafür endgültig amortisiert haben, erklärte ihm der Verkäufer. Er seufzt resigniert. Er schüttelt sich das Wasser vom Mantel und hängt ihn zum Trocknen über die Heizung. Schnell bildet sich im Flur eine riesige Pfütze. Nachdem er eine Kleinigkeit gegessen hat, wischt er die Pfütze im Flur auf. Er wäscht ab und räumt ein bisschen auf, obwohl das Haus wie immer sauber und aufgeräumt ist. Überall hängen fertige Puzzle, säuberlich aufgeklebt und gerahmt. Weiße Strände, blaue Himmel, grüne Wasser. Er setzt sich ins Wohnzimmer und schaltet die Tagesschau ein. Um 23 Uhr macht er den Fernseher aus. Er hat seit drei Stunden keinem Wort folgen können.

Er macht sich bettfertig und legt sich hin.

Er ist müde. Der Regen prasselt unaufhörlich an die Scheiben. Draußen fährt ein Auto vorbei. Im Scheinwerferlicht sieht er die einzelnen Elemente eines Puzzles an der Wand schimmern. Weißer Strand, blauer Himmel, grünes Wasser und Palmen.

„Das halte ich keine sechs Monate aus“, stellt er fest. „Es muss sich dringend etwas ändern!“