Diese Schriftzeichen waren ihm nicht unbekannt. Aramäisch oder doch hebräisch? Seine Neugierde wurde geweckt.
Lars seufzte tief, die Vorlesung würde heute eben mal ausfallen, aber er wollte das Rätsel gelöst haben.
Vorsichtig verschloss er das Paket mit organischen Packband, nahm die schwere Lederjacke von der Garderobe, ein Erbstück seine Vaters, steckte den Brief in eine Innentasche der Jacke und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage des Hauses. Er legte das Paket auf den Rücksitz des Elektrocabrios und schnurrte durch die fast leeren Straßen Berlins. Sein Ziel war eine kleine Buchhandlung in Neukölln. Ein wirtschaftliches Desaster, aber der Inhaber war ein alter Bekannter, Michael Reisig. Einen großen Teil seiner Jugend verbrachte Lars damit, in alten Büchern zu stöbern, den staubigen und muffigen Papiergeruch zu inhalieren und den Menschen bei Gesprächen über Literatur zuzuhören. Angekommen begrüßten sich die beiden herzlich. In den Jahren schien sich nichts verändert zu haben, einige Bücherstapel hatten sich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr bewegt. Selbst bei den sich häufenden Erdbeben in Berlin. „Die Welt vergeht, Reisig-Bücher übersteht.“ Lars amüsierte sich über seinen kreativen Werbeslogan. Er wurde wieder ernst und erklärte seine missliche Lage und legte dem alten Mann den Brief vor. Dieser zog die Lesebrille auf die Nasenspitze. Michael Reisig beugte sich über den Brief, schnaubte unter seinem weißen Schnauzbart und grummelte. „Ja, ja, oh, jesses, ja hmm, das ist in der Tat hebräisch. Moment mal“, der alte Mann stand auf, zog mehrer Bücher aus den hohen Holzregalen und begann, den Brief zu übersetzten. Eines konnte er schon mit Klarheit sagen: „Der Brief wurde von einem Frederick Sonnenschein geschrieben, das steht unten drunter.“ Michael lachte Lars an, ein Zahnruine wurde sichtbar, Lars grinste breit zurück. Nach knapp einer Stunde hatte er ihn rudimentär übersetzt. „Lieber Freund. Bitte Kopf nicht anfassen mit nackte Haut. Mit Liebe, Frederick Sonnenschein.“ Sonst kein weiteres Wort über den Absender oder einen Adressaten. Lars war enttäuscht. Er wollte jetzt schnell nach Hause fahren um dort über Frederick Sonnenschein zu recherchieren. Lars bedankte sich bei seinem Freund für die viele Mühe und versprach, ihn sofort über eventuelle Neuigkeiten zu informieren. Eilig lief er zu seinem Auto.
Dort traf ihn der zweite große Schreck des Tages: Das Paket war aus seinem Auto verschwunden. Er fluchte laut und wünschte sich selbst die Pest an den Hals, immerhin hatte er das Verdeck offen gelassen. Normalerweise schließt es automatisch, aber der Mechanismus war kaputt und er hatte noch keine, ach, Zeit wäre gelogen, er hatte noch keine Lust, den Wagen reparieren zu lassen. Und das war jetzt die Quittung. Er wollte sich gerade hinter das Steuer quetschen, da sah er in einer der Baumbegrenzungen einen Streifen braunes Packpapier hervorblitzen. Er sprang zu dem Begrünungsfleck und hob das Paket auf. Aufgerissen, aber scheinbar komplett. Dankbar drückte er die Klebebandreste zusammen und fuhr wieder nach Hause. Dort setzte er sich sofort an seinen Schreibtisch. Fiebernd suchte er nach Personen, die den Namen Frederick Sonnenschein tragen. Im Hintergrund hörte Lars den 24Stunden-Nachrichtensender.
„Eine aktuelle Meldung aus der Hauptstadt Berlin. Vor wenigen Augenblicken wurde in einem Park in Neukölln die Leiche eines Mannes gefunden. Der Anblick dieser Leiche stellt die Ermittler vor Ort vor ein großes Rätsel. Der Kopf des Mannes ist bis zur Unkenntlichkeit mumifiziert und fehlende Ausweispapiere erschweren die Aufklärung…“
Nach einer Schrecksekunde sprang Lars von seinem Arbeitstisch hoch und starrt auf den Bildschirm, auf dem die Nachrichtensprecherin förmlich neben ihm zu sitzen schien.
Er stürmte in den Flur zu dem Paket, riss es mit gebotener Vorsicht auf und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes mit schreckgeweiteten grünen Augen.