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Mindpacifique

Vier Minuten

von | Dez 10, 2007 | Geschichten | 0 Kommentare

Der Mann hinter der Theke sagt: „Gut, ich mache ihn etwas kleiner, später kann ich ihn ja noch genau anpassen.

Das dauert dann höchstens vier Minuten. Ist besser so. Wenn er einmal zu groß ist, dann ist es schwieriger, ihn wieder kleiner zu machen.“

„Ach so, ja – vier Minuten“ sage ich. Der Mann verschwindet in seiner Werkstatt.

Vier Minuten. Ich setzte mich auf den Wartestuhl vor der gläsernen Verkaufstheke. Ich murmele vor mich hin: „Ja, – vier Minuten.“

Wer ich bin?

Mein Name ist Max Linden und heute kaufe ich einen Verlobungsring. Ich möchte meiner Freundin einen Heiratsantrag machen. Heute Abend. Vor genau vierzehn Jahren habe ich sie im Schulbus kennen gelernt.

Vier Minuten. Damals ist der Bus genau vier Minuten zu spät gekommen.

Mit dreizehneinhalb Jahren hat man noch keine wirklichen Marotten, aber mein Vater hatte sie und ich habe sie übernommen. Pünktlichkeit, dafür hatte er mir eine Uhr geschenkt. Und ich erkannte bald, daß das Leben mit einem Uhrwerk vergleichbar ist.

6:15 Uhr aufstehen, waschen und anziehen.

6:30 frühstücken, Papa einen Kuß geben und Schuhe anziehen.

6:55 zur Bushaltestelle gehen.

7:00 auf den Bus warten und unseren Nachbarn beobachten.

7:05 der Bus hält, jeden Morgen pünktlich, an der Haltestelle.

Damals glaubte ich noch, das alle Menschen pünktlich seien.

So auch unser Nachbar. Von der Haltestelle konnte ich ihn jeden Morgen beobachten. Jeden Morgen, pünktlich um sieben, wenn ich gerade an der Haltestelle ankam, öffnete sich seine Haustür.

Er verabschiedete sich von seiner Frau, sie gab ihm jeden Morgen den großen blauen Müllbeutel in die Hand. Er ging zum bereits geöffneten Doppelgaragentor und warf den Müll in die Mülltonne.

Dann fuhr pünktlich der Bus um die Kurve. Ich stieg in den Bus und setzte mich direkt hinter den Busfahrer, Herrn Hannes Diehsel. Mir wurde schnell schlecht, wenn ich nicht ganz vorne saß. Einmal waren alle vorderen Plätze besetzt und ich musste mich nach hinten setzten. Dort wurde mir so schlecht, das ich mich auf die vorderen Stufen des Einstiegs setzten musste. Seitdem hält Herr Diehsel mir den Platz hinter sich frei, aus Sicherheitsgründen.

Und dann kam der Tag, an dem alles anders wurde.

Der Bus hatte Verspätung. Das erste Mal in den ganzen Jahren. Wie jeden Morgen beobachtete ich unseren Nachbarn. Aber statt wie jeden Morgen den Bus zu begrüßen, sah ich unseren Nachbarn, wie er seinem Kofferraum einen blonden Puppenkopf entnahm. Er steckte sie mit in den Müllsack. Er hob den Deckel von der Mülltonne und bemerkte, das diese schon voll war. Er drückte auf den Müll in der Tonne. Doch sie war voll. Der Sack passte nicht mehr. Entnervt schaute er auf seine Uhr.

Der Bus kam mit einer vierminütigen Verspätung und versperrte mir den Blick .

Ich stürmte in den Bus und hetzte den Gang entlang.

Mein Blick sucht nach einer Lücke zwischen den Fahrgästen, um das Geschehen weiter zu beobachten. Dabei bemerkte ich nicht, wie ich immer weiter nach hinten lief. Der Bus fuhr ruckelnd an. Unser Nachbar warf den Müllsack mit Schwung in den Kofferraum. Dabei fielen die blonden Haare der Puppe heraus. Der Bus fuhr schneller und das Geschehen verschwand hinter der nächsten Kurve. Erst jetzt bemerkte ich, das ich ganz hinten vor der letzten Bank stand. Ein Mädchen aus meiner Parallelklasse dreht sich zu mir um und schaut mich mit großen Augen an. Lotte.

„Oh Gott, ich glaube, mir wird schlecht,“ sagte sie zu mir. -„Das kenne ich“ sagte ich ungerührt, „möchtest du mit mir vorne sitzen.“ Lotte folgte mir zum Sitz hinter Herrn Diehsel.

Seitdem sind wir unzertrennlich.

Für Lotte bin ich immer noch der Junge, der cool bleibt, wenn ein Mann eine blonde Frauenleiche entsorgt.

Sie konnte damals nicht sehen, das es eine Puppe war und heute weiß ich auch, dass sie einen sehr robusten Magen hat.

Wir haben nie darüber gesprochen.

Manches Geheimnis sollte man bewahren.

Nur zur Sicherheit.